Reinkarnation in der "westlichen" Kultur
Definitionen
Reinkarnation in Indien / in Europa
Popularisierung
Reinkarnation - Christentum
Literatur
Definitionen
Inkarnation: abgeleitet von lat. carnis (Fleisch), bedeutet „Fleischwerdung“, ins Fleisch eintreten. Eine bereits vorhandene geistige Seele sucht sich einen fleischlichen Körper. Im Gegensatz dazu wird nach christlicher Vorstellung die Seele des Menschen zugleich mit dem Körper erschaffen.
Reinkarnation: wird üblicherweise mit „Wiedergeburt“ übersetzt. Die Vorsilbe re- wird in der Regel mit „zurück“ oder „wieder“ übersetzt und deutet eine Rückkehr bzw. einen wiederholten Vorgang an. Die Seele kehrt immer wieder in einen neuen fleischlichen Körper zurück. Im Gegensatz dazu geht nach christlicher Vorstellung die Seele nach dem Tod des Körpers zu Gott und bleibt dort.
Reinkarnation in Indien / in Europa
Die Verbreitung des Reinkarnationsgedankens ab dem 18. Jahrhundert in Europa hängt stark damit zusammen, dass fremde Religionen zunehmend zur Kenntnis genommen und erforscht wurden. Vor allem die verbesserten Verkehrsmittel machten es möglich, nichtchristliche Religionen mehr zu beobachten und zu studieren. Die deutsche Klassik und Romantik nahmen vor allem die indischen Religionen bewusst wahr (Hinduismus, Buddhismus) und begannen die geistige Auseinandersetzung mit ihnen.
Die Religionen Indiens betrachten die Reinkarnation und das mehrfache Erdenleben als Ausdruck von Unerlöstheit; erst durch den endgültigen Abbau schlechten Karmas kommt es zu einem Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten. Dem gegenüber sind die westlichen Vorstellungen der Reinkarnation von der Idee einer neuen Chance positiv geprägt.
In der europäischen Geistesgeschichte ist die Reinkarnation erstmals bei Pythagoras (570 bis 497 v.Chr.) sicher nachzuweisen. Seine Vorstellung von der Seelenwanderung wird mit der Vorstellung der periodisch wiederkehrenden Naturvorgänge zum sogenannten ‚Kreislauf der Geburten‘ verbunden. Demnach bleibt die Seele (individuelles Lebensprinzip) unsterblich und kann sich nach dem Tod des Körpers in andere Individuen reinkarnieren. Pythagoras lehrt, dass die menschliche Seele nach festen Regeln die Tierwelt durchläuft und sich in den Körpern von Wassertieren, Landtieren und Vögeln verkörpert, bevor sie wieder in einen menschlichen Leib eingeht. Zwischen Tod und neuer Geburt schweben die Seelen in der Luft.
In der Folge haben verschiedene Philosophen und Dichter den Seelenwanderungsgedanken vertreten, bis weit ins 19. Jahrhundert blieb er aber von geringer Bedeutung in Europa. Unter anderem fand der Reinkarnationsgedanke im 18. Jahrhundert in Lessing, Kant und Goethe Sympathisanten und Bekenner. Gerade in Lessings "Die Erziehung des Menschengeschlechts" wurde die Reinkarnationsvorstellung mit dem Entwicklungs- und Erziehungsgedanken verknüpft. Reinkarnation dient der Erziehung und der menschlichen Vervollkommnung des einzelnen Menschen, aber auch der Menschheit. Im 19. Jahrhundert griffen Spiritismus (Allan Kardec) und Theosophie (Helena Petrovna Blavatsky) die Idee des pädagogischen Reinkarnationskonzeptes auf.
Popularisierung
Durch die Anthroposophie Rudolf Steiners (1861 – 1925) wurde die Lehre der Wiederverkörperung dann einem breiteren Publikum erschlossen. In der Anthroposophie nehmen Reinkarnations- und Karmalehre einen zentralen Platz ein. Lessing aufnehmend baut Steiner den Entwicklungs- und Erziehungsgedanken in seiner Kosmologie und Anthropologie aus. Mensch und Kosmos durchlaufen einen Prozess des Fortschritts aus dem Stofflichen ins Reingeistige. Steiner übernimmt die indische Leiberlehre (physischer Leib, Ätherleib, Astralleib) aus dem theosophischen Erbe und beschreibt ausführlich die Phasen des Läuterungsprozesses, den das Ich nach dem Tod durchläuft. Dabei wird das Ich in der geistigen Welt weitergebildet.
Den nächsten Schub Richtung Popularisierung von Reinkarnationsvorstellungen leistete die sogenannte Reinkarnationstherapie. Sie wurde als die überzeugendste Form zur Vermittlung westlicher Reinkarnationsvorstellungen betrachtet (R. Sachau). In ihr seien die Vorstellungen einsehbar und vor allem erlebbar. Im deutschen Sprachraum war es vor allem der Psychologe Thorwald Dethlefsen (1946-2010), der die Reinkarnationstherapie und damit Reinkarnationsvorstellungen bekannt machte. Seine Bücher erreichten eine Millionenauflage. Zum Bearbeiten seelischer Traumata lässt die Reinkarnationstherapie die Rückführung nicht in der Kindheit der betreffenden Person enden, sondern geht vor Geburt und Zeugung zurück. Die Ursache von einem gegenwärtigen Leiden wird in vormaligen Existenzformen angenommen. Die Beschwerden werden als karmische Überreste früherer Leben gedeutet. Allerdings sind die spekulativen oder konstruktiven Anteile bei den Rückerinnerungen groß, Inhalte können nicht verifiziert werden oder erweisen sich als falsch. Sie kann daher ihren eigenen wissenschaftlichen Anspruch nicht erfüllen.
Heute stellen sich die westlichen Reinkarnationsvorstellungen in ihrer erlösenden, optimistischen Art dar, die dem Wunsch nach Ausschöpfung aller Lebensmöglichkeiten entgegenkommt. Die westliche Idee der Wiedergeburt zeigt sich als eine attraktive Möglichkeit, in immer neuen Lebensformen einen erfüllenden Lebenssinn zu finden. Reinkarnationsvorstellungen scheinen das Individuum innerhalb unserer pluralisierten Lebenswelt von dem Druck zu entlasten, falsche Lebensentscheidungen getroffen bzw. wichtige Erfahrungen versäumt zu haben. – „Es gibt noch einmal eine Chance“.
Umfragen ergeben einen Anteil von ca. 25% in der europäischen bzw. amerikanischen Bevölkerung, die an Reinkarnation glauben oder sie zumindest für möglich halten. Zahlreiche neureligiöse Gruppen sowie die meisten esoterischen Anbieter beziehen in ihre Lehren die Reinkarnation mit ein.
Reinkarnation – Christentum
Für das biblische Glaubensverständnis ist die menschliche Geschichte in jedem Augenblick etwas Neues und Einmaliges, ausgerichtet auf ein Ziel, auf ein vollendendes Ende. Das jetzige Leben ist von einmaliger heilsgeschichtlicher Bedeutung. Sowohl innerhalb des Alten Testaments als auch im Bereich des Neuen Testaments spielt der Reinkarnationsgedanke keine Rolle. Sowenig sich aus der Schrift die Lehre der Wiedereinkörperung herleiten lässt, sowenig ist diese Lehre von den frühen Kirchenlehrern vertreten worden. Auch wenn immer wieder von Vertretern von Reinkarnationsvorstellungen behauptet wird, dass die Reinkarnation Lehre der frühen Kirche gewesen sei und erst mit der Synode von Konstantinopel (543) bzw. mit dem 2. Konzil von Konstantinopel (553) verboten wurde, so stimmt dies nicht mit den historischen Fakten überein. Die Synode bzw. das Konzil weisen die Präexistenzlehre des Origenes zurück, nach der alle Seelen am Anfang geschaffen und einige zur Strafe für ihre Abkehr von Gott in die Leiber gesperrt wurden. Die Kirche hat die Reinkarnationslehre nie verurteilt, weil diese immer als eine außerchristliche religiöse Überzeugung galt, die für die Kirche nicht mit dem christlichen Glauben zu vereinbaren war.
Literatur
T. Dethlefsen, Das Erlebnis der Wiedergeburt. Heilung durch Reinkarnation, München 51986;
Friedmann Eißler, Art. Reinkarnation, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). URL: https://www.ezw-berlin.de/html/3_167.php (Abrufdatum 26.11.21)
M. Kehl, Und was kommt nach dem Ende?, Freiburg 22000;
H. Kessler, Was kommt nach dem Tod?, Kevelaer 2014;
C. Kuby, Unterwegs in die nächste Dimension, München 2003;
G. Looser, Welches Leben nach dem Tod? Reinkarnation und christlicher Glaube, Ostfildern 2013;
S. Lorger-Rauwolf, Reinkarnation (= Werkmappe „Sekten, religiöse Sondergemeinschaften, Weltanschauungen“ Nr. 82), Wien 2000;
E. C. Prophet / E. L. Prophet, Reinkarnation. Das unterdrückte Geheimnis des Christentums, München 2010;
Benedikt XVI. Joseph Ratzinger, Eschatologie. Tod und ewiges Leben, Regensburg 2019 (= Nachdruck der 2. Auflage 2007);
R. Sachau, Weiterleben nach dem Tod? Warum immer mehr Menschen an Reinkarnation glauben, Gütersloh 1998;
C. Schönborn, Reinkarnation und christlicher Glaube, in: C. A. Keller, Reinkarnation – Wiedergeburt – aus christlicher Sicht, Fribourg 1987.
Stefan Lorger-Rauwolf / Meinrad Föger, 2021