Jehovas Zeugen
Die Entwicklung in Österreich
Die religiöse Lehre
Die religiöse Praxis
Die Entwicklung in Österreich
1911 machte der US-amerikanischen Prediger Charles Taze Russell (1852-1916) auf seiner Weltreise Halt in Wien. Aber sein Vortrag über die Endzeit blieb ohne Erfolg. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Tod Russells haben die Ausbreitung der Bibelforscher - in den USA auch Russell-Leute genannt – hierzulande behindert. Auch die Fehldeutung des Jahres 1914 – in dem die böse Welt durch den Beginn des tausendjährigen Friedensreiches abgelöst werden sollte – löste unter den wenigen Anhängern wohl Ernüchterung aus.
Ab 1919 begann der Russell-Nachfolger Joseph Rutherford (1869-1942) mit der Umgestaltung der Endzeitlehre, die nun von der Wachtturm-Gesellschaft in Brooklyn/New York (WTG) verbreitet wurde. Er errichtete in Bern eine Europa-Zentrale und baute von dort aus ein Netz von Niederlassungen auf, das für seine neue Bibelinterpretation warb. „Alte“ Bibelforscher-Kreise verweigerten sich dieser Vereinnahmung und bildeten von der Wachtturm-Gesellschaft unabhängige Gemeinschaften. Eine solche existiert heute noch in Oberösterreich. 1931 führte Rutherford seine neue Bezeichnung zur Abgrenzung von den Russell-Leuten und anderen Bibelforschern ein: Jehovas Zeugen. Die Zeugen Jehovas sind somit ein Teil der Bibelforscher-Bewegung; ihnen gehören aber die von Russell gegründeten Einrichtungen der Wachtturm-Gesellschaft.
Im Jahre 1921 kam der Fassbinder Leopold König aus der Schweiz nach Wien und begann als Wachtturm-Kolporteur tätig zu werden. Zum Zweck des Literaturverkaufs hielt er öffentliche Vorträge und suchte Adressen von Interessenten zu gewinnen; Haustürverkäufe waren damals gesetzlich verboten. Zwischen 1923 und 1935 betrieb die Wachtturm-Gesellschaft in Wien ein Büro. Hier liegen die eigentlichen Anfänge der „neuen“ Bibelforscher in Österreich, die sich heute Zeugen Jehovas nennen. Bis 1938 waren es etwa 550 Mitglieder. In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wurden die Anhänger der illegalen Bibelforscher-Vereinigung als Staatsfeinde verfolgt. Sie erlitten das gleiche Schicksal wie liberale Journalisten, Pfarrer und Pastoren, Wehrdienstverweigerer, Kriminelle, Homosexuelle und Asoziale. Die Wachtturm-Gesellschaft gab einen kollektiven Weg in die Fundamentalopposition vor, als alle juristischen und diplomatischen Verhandlungen mit den nationalsozialistischen Herrschern ergebnislos verlaufen waren und das Verbot weder zu verhindern noch zu lockern war. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges kostete die Kriegsdienstverweigerung vielen radikalen Bibelforschern ihr Leben. In Österreich wurden 48 Menschen wegen Wehrdienstverweigerung hingerichtet, 94 starben im Konzentrationslager oder in der Haft.
Die Nachkriegszeit stand ganz im Zeichen des Organisationsaufbaus. 1947 wurde der Verein Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaftgegründet. 1957 erwarb der Verein Haus und Garten in der Gallgasse in Wien, wo sich bis 2011 das Zweigbüro für Österreich befand. Heute ist Österreich in einen umfassenderen Zweig mit Deutschland, Luxemburg, Lichtenstein, Schweiz eingebunden.
Es gibt heute 293 Versammlungen mit ungefähr 21.000 Mitgliedern. Die Versammlungen werden zusammengefasst in Kreise, diese wiederum ergeben Bezirke. Mehrere Bezirke ergeben einen Zweig. Österreich ist Teil des Deutschland-Zweiges, der direkt der Leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas in New York untersteht.
1998 erhielten Jehovas Zeugen in Österreich den Status einer staatlich eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft; am 7. Mai 2009 erhielten sie die angestrebte gesetzliche Anerkennung als Religionsgesellschaft in Österreich.
Die religiöse Lehre
Die Herrschaft Gottes
Zeugen Jehovas glauben heute, dass im Jahr 1914 Jesus begonnen habe, als König im Himmel zu regieren (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich? 2005, 85). Dieses Ereignis habe zu sichtbaren Veränderungen in der Welt geführt. So habe die Verbannung Satans und der Dämonen aus dem Himmel dazu geführt, dass diese Unheil über die Welt gebracht und so den Ersten Weltkrieg ausgelöst hätten. Hatte Russell, der vor dem Jahre 1914 seine Prophezeiung gemacht hatte, geglaubt, dieses Jahr sei der Endpunkt des Wirkens besonderer satanischer Mächte auf Erden gewesen, so glauben Zeugen Jehovas, die nach 1914 leben, es sei dessen Anfang. So wächst nun seit Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur das Elend in der Welt, sondern auch der Glaube an eine theokratische Ordnung in dieser Welt. Jehovas Zeugen sehen in ihrer Führung, der Leitenden Körperschaft, besonders privilegierte Gläubige; sie seien Teil der „144.000 treuen Personen“, die allein in den Himmel kommen und dort zusammen mit Jesus mitregieren werden (Wachtturm 1. April 2007).
Der Wille Gottes
Laut Lehre der Zeugen Jehovas verfolgt Gott keinen fixen Plan, an den er dann gebunden wäre. Vielmehr habe er Vorsätze, die er verwirklichen wolle. Das Bibelverständnis der Zeugen Jehovas ist aufs engste mit dem Willen Gottes verbunden und so gilt Gott einfach als Autor der Bibel. Die Bibel enthalte seine Erklärungen zum Sinn des Lebens, zu Fragen der Ewigkeit und zur Deutung des Zeitgeschehens. Nicht nur für das dritte Jahrtausend habe Gott biblischen Stoff bereitgestellt. „Der gesamte Inhalt der Bibel deckt Tausende von Jahren ab, und es geht immer in irgendeiner Weise darum, wie Gott nach und nach seinen Willen ausführt“ (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich? 2005, 20). Gott habe die Welt als Paradies erschaffen und er wolle diesen Zustand auch wieder herstellen. Dazu sei es notwendig, sich ganz der Herrschaft Gottes unterzuordnen und sich dem Satan, dem neuen Herrscher der Welt, zu entziehen. Es ist diese dualistische Sichtweise der Zeugen Jehovas, die sie zu Nonkonformisten macht und sie allen gesellschaftlichen und religiösen Entwicklungen gegenüber äußerst skeptisch bleiben lässt. Zeugen Jehovas leben streng nach den
Vorschriften, die sie von der Wachtturm-Gesellschaft vorgelegt bekommen. Die in den Zeitschriften Der Wachtturm und Erwachet! vorgegebenen Ideale werden als biblisch verbindlich anerkannt und konsequent in allen Lebensbereichen umgesetzt: in der Freizeitgestaltung, in Gesundheitsanliegen, im Familienleben, in der Berufswelt, im Gemeinschaftsleben und im Missionsdienst. So können sich Zeugen Jehovas sicher sein, ein korrektes Zeugnis für die Herrschaft Gottes und ihre Paradieshoffnung abzulegen: „Die Art und Weise, wie wir Gott anbeten, bedeutet also wirklich Leben oder Tod für uns“ (ebd., 145). Zur Lehre der Wachtturm-Gesellschaft gibt es für Zeugen Jehovas absolut keine religiöse und moralische Alternative.
Das ewige Leben
„Jehova erschuf die Menschen dazu, ewig auf der Erde zu leben“ (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich? 2005, 59). Dies wurde im Paradies von Adam und Eva durch Lug und Trug Satans verspielt. Dieses treulose Verhalten der ersten Menschen hatte für die Menschen den Tod zur Folge. Laut Wachtturm-Gesellschaft bedeute Tod, nicht mehr zu existieren. Es gibt also keine sofortige Auferstehung in den Himmel für Zeugen Jehovas, die nicht zu den 144.000 gehören; es gibt kein Jenseits und keine persönlich geprägte Lebenskraft und keine Identität bewahrende Seele. Durch den Tod werden mehr als nur die Sünden ausgelöscht. Der Ganz-Tod gilt als ein Fluch (ebd., 63) – nicht nur für die Menschen. Gott sei dadurch herausgefordert, seine Macht zu beweisen, und das Paradies und das ewige Leben wiederherzustellen.
Mit Hilfe des Erzengels Michael, der in seiner menschlichen Erscheinung Jesus genannt wurde, habe Gott die Welt aus dem Tode Adams befreit. Dies sei im Opfertod Jesu vollzogen worden. Gott habe sich an das biblische Vergeltungsgebot (Deuteronomium 19, 21) gehalten und das Opfer Jesu als Pfand für die Schuld Adams eingesetzt (ebd., 50f). Deshalb können nach Abschluss des Tausendjährigen Reiches alle Menschen Gott Jehova annehmen und gemeinsam mit den schon zu Lebzeiten aktiven Zeugen Jehovas, ein ewiges Leben im Paradies auf Erden zu verbringen. Die unverbesserlichen Ungläubigen werden von Jehova ausgetilgt (ebd., 73).
Die religiöse Praxis
Die Versammlungen
Die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas verlaufen im Stil einer Predigerschule. Dreimal in der Woche gibt es eine Versammlung (zwei im Königreichsaal, zum Wachtturm-Studium und zur Theokratischen Predigtdienstschule; eine im häuslichen Bereich); zweimal jährlich finden eintägige Kreiskongress und einmal im Jahr der dreitägige Bezirkskongress statt. Bei diesen Treffen wird anhand von Vorträgen und Rollenspielen der bibelkonforme Umgang mit aktuellen Lebensfragen vorgestellt. Anhand ihrer eigenen Bibelübersetzung werden immer neue Aspekte der alles bestimmenden Endzeitlehre aufgezeigt.
Die gesamte Familie nimmt an der Versammlung teil. Es gibt keine parallel dazu stattfindenden Programme für Kinder und Jugendliche. Zeugen Jehovas führen auch keinen eigenen Religionsunterricht durch. Die Familie gilt als reale Schutzgemeinschaft (um
Sittlichkeit zu bewahren) und als Ort des Friedens (um Gehorsam und Einigkeit zu leben). Als privater Gedenktag ist der Tag der Trauung eine Besonderheit unter Zeugen Jehovas (Wachtturm 15. Oktober 2006); der Tauftag wird alljährlich beim Besuch des Bezirkskongresses wachgerufen. Sie bilden eine Ausnahme von der langen Liste an Verboten von religiösen und anderen Festtagen. Mit diesen und anderen Ratschlägen bestimmt die Wachtturm-Gesellschaft die Lebensgestaltung von Zeugen Jehovas. Dieser deterministische Zug leitet sich von der Vorstellung ab, ein Leben unter der Theokratie Gottes zu führen.
Für besondere Anliegen werden in jeder Versammlung eigene Arbeitsgruppen gebildet, wie z.B. Bau- oder Hilfskomitees. Dazu zählt auch das Krankenhaus-Verbindungskomitee, das Ärzte, Krankenpersonal und Juristen über Behandlungsforderungen der Zeugen Jehovas aufzuklären. Da das Blut als Sitz des gottgegebenen Lebens gilt, gilt das Gebot, sich zu medizinischen Zwecken kein Blut – weder eigenes noch fremdes - geben zu lassen (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich 2005, 131). Andere Behandlungsmethoden, die bestimmte Blutbestandteile verwenden, müssen im Bewusstsein des unveränderlichen Bibelgebots laut Genesis 9,4 und Apostelgeschichte 15, 29 - sich vom Blut zu enthalten - gewissenhaft abgewogen werden (Wachtturm 15. Juni 2004). Verstößt jemand bewusst dagegen, so hat er die Hoffnung auf ein ewiges Leben verspielt und gilt nicht mehr als Zeuge Jehovas.
Der Predigtdienst
Ausgehend vom 1. Korintherbrief 11,3 gilt die männliche Leitung als theokratisch. Die Versammlungen werden von Ältesten – die für seelsorgliche Belange zuständig sind - und Dienstamtsgehilfen - für organisatorische Aufgaben zuständig - ehrenamtlich geführt. Bei der Straßen- und Haus-zu-Haus-Verkündigung wird kein Unterschied zwischen Mann oder Frau, getauften oder ungetauften Verkündigern (z.B. Kindern) gemacht. Für den viel umworbenen Pionierdienst gilt seit Jänner 2000 ein Limit von 70 Monatsstunden; für Hilfspioniere von 50 Monatsstunden Predigtdienst. Die Finanzierung der kostenlos abgegebenen Schriften erfolgt seit Beginn der 1990er Jahre durch Spenden. Einen besonderen Hinweis zu großzügigem Geben, das glücklich macht, erfolgt jährlich im Wachtturm vom 1. November.
Durch das Verteilen von Prospekten und einzelnen Zeitschriften machen Zeugen Jehovas auf sich aufmerksam. Im Predigtdienst darf kein Zeuge Jehovas Andersgläubige verurteilen, denn in der Mission wird davon ausgegangen, dass alle „Mitmenschen mögliche Glieder der christlichen Bruderschaft“ werden können (Wachtturm 1. Juli 2000, 11). Einer gewissen Geringschätzung kann sich die Wachtturm-Gesellschaft aber doch nicht enthalten: „Die Mitglieder falscher Religionen bilden keine solche liebevolle Bruderschaft“ (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich? 2005, 148).
Beim Heimbibelstudium findet das neue Kursbuch Was lehrt die Bibel wirklich? Es legt in groben Zügen die Weltanschauung der Zeugen Jehovas dar. In einem eigenen Kapitel wird auch der Weg zur Mitgliedschaft beschrieben (ebd., 174-183). Wer sich nach laufenden Kontakten mit den Grundlehren der Wachtturm-Gesellschaft vertraut gemacht habe und ernsthaft Zeuge Jehova werden wolle, der könne sich mit Erlaubnis der Ältesten einer Versammlung als ungetaufter Verkündiger beim Predigtdienst beteiligen. Glaubwürdig für eine Sache zu werben, falle einer Person erst dann leicht, wenn sie von dieser Sache existenziell überzeugt sei. „Wir verleugnen uns selbst, wenn wir darauf achten, dass uns
persönliche Wünsche und Ziele nicht davon abbringen, Gott absolut gehorsam zu sein“ (ebd., 179). Als besonderer Meilenstein gilt schließlich die Wassertaufe. Sie ist ein öffentliches Versprechen als Zeuge Jehova zu leben. „Getauft zu sein bedeutet nicht automatisch, gerettet zu sein“ (ebd., 183). Durch vollständiges Untertauchen in Wasser durch einen dazu beauftragten Täufer wird ein Zeuge Jehova Mitglied bei der Religionsgemeinschaft.
Der Informationsdienst
Jehovas Zeugen enthalten sich politischer und militärischer Aktivitäten. Sie tun dies einzig deshalb, um sich loyal gegenüber Gottes Willen zu erweisen, Wehrdienstverweigerung geschieht bei ihnen nicht etwa um des Friedens willen. Ihr nicht kooperatives Verhalten in der Gesellschaft nennen sie selbst Neutralität. Es ist der Versuch der Wachtturm-Gesellschaft, ihre Mitglieder frei von gesellschaftlichen Verpflichtungen und offen für den Predigtdienst zu halten. Die selbst auferlegte Zurückhaltung gegenüber gesellschaftspolitischen Vorgängen hat zum Image beigetragen, Zeugen Jehovas seien eine oppositionelle Gemeinschaft, die auch dem Konflikt mit dem Staat nicht ausweicht. Im Zuge zunehmender gesellschaftlicher Liberalisierung hat aber das Widerstandsimage an Attraktivität verloren. In der postmodernen Kultur zählt vor allem die positive Leistung. Mitte der 1990er Jahre haben die Zeugen Jehovas auf diesen Wandel reagiert und einen eigenen Informationsdienst gegründet.
Anliegen dieser neuen Informationspolitik ist es, zu zeigen, dass Zeugen Jehovas innerhalb ihrer Gemeinschaft die persönlichen Rechte auf Entscheidungs- und Gewissensfreiheit respektieren. So sei nun der Zivildienst erlaubt; es ist möglich ein Wahllokal zu besuchen; an Schul- oder Betriebsräten kann man sich beteiligen; auch die staatliche Anerkennung als Religionsgemeinschaft kann angestrebt werden. Für Außenstehende erscheint das gesellschaftliche Leben der Zeugen Jehovas damit leichter lebbar und attraktiv. Dies ist von Bedeutung, denn der Zuwachs der Zeugen Jehovas erfolgt Großteils nicht aus den eigenen Reihen, sondern durch Missionierung Außenstehender (Wachtturm 1. Januar 2004).
Im religiösen Kontext ist die dualistische Ausrichtung der Zeugen Jehovas unverändert erhalten geblieben. „Wahre Christen halten sich daher von allem fern, was mit der falschen Anbetung zusammenhängt“ (WTG, Was lehrt die Bibel wirklich? 2005, 152). Es sei Satan, der mit seinen Dämonen in der Welt wirke und alles Religiöse – mit Ausnahme der Zeugen Jehovas – korrumpiert habe. „Die falsche Religion hat keinen echten Wert, sie ist wie Falschgeld. Schlimmer noch, sie ist sogar schädlich“ (ebd., 145). In der pauschalen Abwertung anderer Religionen zeigt sich die radikale Verengung der Perspektiven durch eine Endzeit-Religiosität.
Literatur
W. Mischitz, Jehovas Zeugen und ihre Umwelt - Zwischen Aneignung und Abwehr, Werkmappe Nr. 86, Wien 2002.
Wolfgang Mischitz, 2014