In der aktuellen Situation wird immer wieder auch die Frage danach gestellt, ob es sich bei der Covid-19-Pandemie womöglich um eine Strafe Gottes handelt. Die Beantwortung dieser Frage, die ins Zentrum von Glaube und Theologie geht, fällt – je nach Perspektive – unterschiedlich aus. Ausgehend von zwei Statements, in welchen die Meinung vertreten wird, dass Gott jetzt bestraft, bietet der Theologe Dr. Bernhard Wenisch in seinem Text Ansatzpunkte für mögliche Antworten auf diese und ähnliche Fragen.
Ist die Covid-19-Pandemie eine Strafe Gottes? „Ja“ – diese Position entwickelt in einem Internet-Portal der italienische Historiker Roberto de Mattei[1], der als Vertreter stark traditionalistischer Ansichten bekannt ist. Auch zur Erdbeben-Tsunami-Katastrophe in Japan hatte er sich ähnlich geäußert und sie als „Beweis für die Existenz Gottes“ und „gerechte Strafe“ bezeichnet[2]. Gott sei unendliche Gerechtigkeit, er belohne das Gute und bestrafe das Böse – und das nicht nur am Einzelmenschen, sondern auch an Familien, Kulturen und Völkern. Der Einzelne erfahre diese Gerechtigkeit Gottes teilweise schon in diesem Leben, voll und ganz aber in der Ewigkeit. Nationen und Völker, da ohne ewiges Leben, würden auf Erden belohnt oder bestraft. De Mattei scheut nicht vor drastischen Formulierungen zurück: Gott „züchtigt“ durch „göttliche Geißeln“, er nimmt „Rache“ (nach Thomas von Aquin). Das tue er mit Hilfe natürlicher Ursachen (etwa eines Virus), aber die würden von ihm geordnet und reguliert – so kann dann eben auch die Covid-19-Pandemie herauskommen: als Strafe. Wofür aber ist diese verhängt? Als Geschichtsphilosoph und -theologe weiß De Mattei die Antwort: Die hier gestrafte große Sünde ist der Glaubensverlust der Kirchenmänner als Ganzes mit seinen schlimmen Folgen für Kirche und Gesellschaft. Es geht also um das ständige Thema aller katholischen Traditionalisten, die die kirchliche Entwicklung der letzten 50 Jahre ablehnen.
„Ja und nein“, sagt P. Franz Schmidberger von der Priesterbruderschaft St. Pius X. zu unserer Frage[3]. Das „nein“ soll die Vorstellung von einem „rachsüchtigen“ Gott ausschließen. Dann entschlüpft Schmidberger aber doch die Formulierung, dass Gott seine Ehre „räche“, und das deshalb, weil der Mensch versucht habe, sich durch Wissenschaft und Technik an seine Stelle zu setzen. Dass Gott Sünden strafe, sei für die Bibel selbstverständlich. Auch Jesus habe den von ihm vorhergesehenen Untergang Jerusalems als Strafe für dessen Unglauben verstanden. In der späteren Kirchengeschichte seien stets „Krieg, Seuchen, Erdbeben und andere schlimme Heimsuchungen als Strafe Gottes erkannt“ worden. Gott könne sich der von ihm geschaffenen Natur genauso souverän bedienen wie eines Klaviers. Er spiele – bei glückhaften Fügungen – mit Leichtigkeit in schönster Dur-Tonalität. Er könne aber – bei Katastrophen – auch atonale Musik zulassen, wenn es dem Heil der Seelen dienlich sei. Die jetzige Covid-19-Pandemie ist für Schmidberger die göttliche Strafe für den geistigen und moralischen Verfall der Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten. Hier nennt er vor allem die Abtreibung: Eine Gesellschaft, die massenhaft die Kinder im Mutterleib tötet, „hat eigentlich ihr Lebensrecht vor Gott verwirkt und das göttliche Strafgericht herausgefordert“.
Diese beiden Artikel, die sich in ihren Grundannahmen nahe kommen, werfen für mich Fragen auf, die ins Zentrum von Glaube und Theologie gehen. In diesem Statement können nur Ansatzpunkte von Antworten gegeben werden.
Kollektives Unglück als gerechte Strafe?
Die Strafe soll also Ausdruck der göttlichen Gerechtigkeit sein, Gottes gerechte Antwort auf die Sünde – wie den Abfall vom Glauben und die Verletzung ethischer Grundwerte. Diese Strafe bricht als von Gott beabsichtigtes Unglück über ein Kollektiv von Menschen herein und trifft unterschiedslos und von blindem Zufall gesteuert alle, die ihm angehören: Säuglinge, Kinder und Erwachsene, solche die ethisch verantwortungsvoll und solche die verantwortungslos leben, „Gläubige“ und „Ungläubige“. Wollte man hier tatsächlich von Gerechtigkeit reden, müsste in irgendeiner Form das Prinzip „suum cuique“ – jedem das Seine – verwirklicht sein. Was aber hier passiert, ist das Gegenteil. Von Gerechtigkeit kann da wirklich keine Rede sein.
Strafe hat letztlich keinen Sinn, wenn sie nicht von den Adressaten als solche verstanden wird. Nun ist aber im Fall der Covid-19-Pandemie den allermeisten Betroffenen nicht bewusst, dass sie jetzt gerade eine Strafe erleiden. Das ist heute anders als in früheren Zeiten, in denen alles aus einem christlichen Weltbild wahrgenommen und erklärt wurde. Katastrophen wurden da grundsätzlich als Strafe Gottes gesehen – freilich musste das angesichts der ständigen Heimsuchungen, die die Gesellschaft trafen, eigentlich zur Annahme einer Dauerstrafe führen. Heute sind „Geschichtstheologen“ wie De Mattei, die diese Sicht vertreten, doch eher in der Minderheit und können sich außerhalb ihrer Subkultur kaum wirksam verständlich machen.
Man kann also weder argumentieren, dass das kollektive Unglück irgendetwas mit Gerechtigkeit zu tun haben könnte, noch dass es von der Mehrzahl der Betroffenen als Strafe verstanden werden kann.
„Will“ Gott Naturkatastrophen, Seuchen und Kriege?
Diese Frage führt mitten in die Theodizee: Wie kann es sein, dass Gott gut und allmächtig ist und es dennoch in der Natur zahlreiche Übel gibt, unter denen Tiere und Menschen leiden, und in der menschlichen Welt das Böse? Hier gibt es keine glatte Lösung, aber einige Eckpunkte seien angeführt.
Im christlichen Glauben an die absolute Güte und das Wohlwollen Gottes gegenüber dem Menschen darf man festhalten: Gott will nicht, dass Menschen von Übeln der Natur, z.B. Erdbeben oder Seuchen, getroffen werden, und noch weniger will er Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg. Aber warum gibt es dann das alles? Wir glauben doch, dass Gott als Schöpfer alles hervorruft und allem nahe bleibt.
Beim Bösen im Bereich des Menschen ist die Frage noch relativ leicht zu beantworten. Um der menschlichen Freiheit willen verhindert Gott nicht, dass Menschen Böses tun. Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gehört untrennbar zur menschlichen Person. Ohne sie könnte es auch keine wirkliche Erkenntnis geben, was ich hier nicht zeigen kann. Auch Freiheit und Liebe hängen zusammen. Wenn Gott also die Freiheit des Menschen und damit den Menschen überhaupt will, dann muss er das Böse als negative Möglichkeit der Freiheit in Kauf nehmen, „tolerieren“, die traditionelle Theologie spricht hier von „zulassen“.
Die Übel der Natur kommen daher, dass auch die Natur in die Selbständigkeit gestellt ist. Sie verwirklicht sich aus ihren eigenen Kräften und Energien in der Entstehung und der Entwicklung des Weltalls und der biologischen Evolution. Auch die menschliche Freiheit hätte nicht entstehen können ohne diese Eigenständigkeit der Schöpfung. Diese kann aber immer wieder zu Konstellationen führen, die von Tieren und Menschen als Übel (oft verbunden mit Schmerz und Leid) erfahren werden.
Gott fällt der menschlichen Freiheit nicht in den Arm. Auch dann nicht, wenn Menschen sie zum Bösen missbrauchen, beispielsweise um Kriege anzuzetteln. Er greift auch nicht direkt in die Natur ein, um Leid zu verhindern. Trotzdem zieht er sich nicht aus der Welt zurück, da er im Bund mit Israel und in Jesus persönlich in sie eingetreten ist. Über den Dialog und die Auseinandersetzung mit den Menschen macht er Geschichte. Er wendet sich ihnen in der Offenbarung, besonders in den Wundern, aktiv zu, auch dadurch, dass er sich auf schöpferische Weise Erscheinungen der Natur aneignet, um in ihnen erfahrbar zu werden. In Jesus ist Gottes Wort sogar Mensch geworden und spricht, handelt und leidet persönlich als dieser Mensch, und der Geist Gottes erfasst die Menschen von innen, um sie zu Glaube und Liebe zu inspirieren.
Gott ist uns nahe – gerade auch in den Herausforderungen der Covid-19-Krise
So ist also die Covid-19-Pandemie keine Strafe Gottes. Sie ist nicht eigens von Gott geschickt, sondern gehört zur uns umgebenden und wegen ihrer gravierenden Beeinträchtigungen aller Art besonders herausfordernden Wirklichkeit des Lebens und der Schöpfung. In ihr ist Gott ebenso gegenwärtig wie in allem, was uns begegnet. Er will, dass wir uns ihr stellen und stärkt uns, in ihren Schwierigkeiten zu bestehen. Ich denke dabei auch an die Hilfe, die wir den Mitmenschen und dem Ganzen der Gesellschaft leisten können. Wir sollten uns aber auch der Perspektive des Todes vielleicht wieder einmal neu stellen. Besonders bedenkenswert scheint mir auch, dass gerade in einer solchen Krise Mängel des Gesellschaftssystems stark in Erscheinung treten [4]. Menschen sollten dann dafür auch sensibler werden, z. B. für gewisse Gefahren der Globalisierung. Freilich passiert es auch, dass gesellschaftliche Probleme dann ganz totgeschwiegen werden, z. B. die Situation der Flüchtlinge. Ich denke, dass auch da große Herausforderungen liegen.
Der bleibende Sinn von „Strafe“
Unsere ethischen Entscheidungen haben Folgen. Ethisches Versagen (=„Sünde“), mag uns kurzfristige Vorteile bringen, aber es schadet anderen und letztlich auch uns selbst. Wenn wir uns von einer solchen negativen Entscheidung abwenden, also „umkehren“, dann bleibt immer noch, dass wir uns mit den betroffenen Mitmenschen aussöhnen und eventuell den ihnen angetanen Schaden gutmachen. Ebenso braucht es die Auseinandersetzung mit den destruktiven Folgen für uns selbst. Negative Haltungen, die in uns entstanden sind, müssen abgelegt werden. Aus der Sicht des Glaubenden erwartet Gott von ihm diese Abarbeitung der auch nach einer Bekehrung bleibenden Folgen der Sünde und mutet sie ihm zu. Und das über den Tod hinaus, da wir ja vieles, was mit unseren Mitmenschen und in uns ungelöst blieb, „mitnehmen“ und davon geläutert werden müssen.
So sehe ich in dieser Abarbeitung der Folgen der Sünde vor und „nach“ dem Tod den eigentlichen Sinn von Strafe. Insofern kann auch der einzelne Glaubende seine im Licht des Heiligen Geistes in Gebet und Meditation erkannten besonderen Herausforderungen in der Covid-19-Krise als gottgewollte Chance zur Läuterung erfahren. Und das lässt sich auch auf die Gesellschaft als Ganzes übertragen: Die Seuche ist zwar keine von Gott verhängte Strafe, aber die Gesellschaft ist herausgefordert, in dieser Lage die rechten Schlüsse zu ziehen. Dabei kann sie auch manche Fehlentwicklungen als solche erkennen und neue Wege einschlagen.
Neudenken bestimmter Traditionen
Das biblischen Denken und die christliche Theologie neigten immer wieder dazu, Gottes Strafen als eine äußere Sanktion zu verstehen. Sie sollte Menschen klein machen und zur Raison bringen. Das klingt auch in den beiden Texten am Anfang stark durch: „Die Menschen müssen wieder hilflos dastehen … und vor Angst vergehen.“ (Schmidberger). Diese Sichtweise muss man aber wohl auf das Konto der lange Zeit nicht hinterfragten hierarchischen gesellschaftlichen Strukturen setzen, die unbesehen auf das Verhältnis Gott-Mensch übertragen wurden und teilweise immer noch werden.
Heute neigt man dazu, die Begegnung zwischen Gott und Mensch „auf Augenhöhe“ zu denken. Gottes Schöpfermacht erreicht ihren Höhepunkt in der Freisetzung des Menschen, den er als seinen Gesprächspartner haben will. Wenn Gott den Menschen richtet, dann so, dass er ihn von innen her zur Erkenntnis seiner selbst führt. Die „Strafe“ wird nicht von außen verhängt, sondern ergibt sich organisch aus dem Selbstgericht des Menschen.
Bernhard Wenisch, April 2020
[1] https://katholisches.info/2020/03/17/ist-coronacirus-eine-strafe-gottes-56561. In einer am 27. März erschienenen Sondernummer der Zeitschrift Der 13. hat Stephan Frey von der Priesterbruderschaft St. Pius X. unter dem Titel Eine Geißel Gottes? wesentliche Teile des Artikels übernommen (6-7). Vergleichbar auch: Alfons Adam, Die Krise ist ein Wink Gottes!, 8-9. In dieser Sondernummer wird die Covid-19-Pandemie aber grundsätzlich eher verharmlost. Für die öffentliche Sichtweise werden verschwörungstheoretische Erklärungen angedeutet.