Besessenheit
Zum religiösen Phänomen
Medizinische und sozialpsychologische Überlegungen
Zur theologischen Deutung
Engführungen in christlichen Gruppen
Zum religiösen Phänomen
Über die ganze Welt verbreitet ist der Glaube an die Möglichkeit von Besessenheit. Danach könnten sich Geistwesen eines Menschen unter teilweiser oder völliger Ausschaltung seiner Ichfunktionen bemächtigen. Das zeige sich in psychischen und körperlichen Störungen, spontanen oder induzierten, individuell oder in Gruppen auftretenden Trancezuständen, verbunden mit dem Anschein nach fremdgesteuerter Aktivität – Schreien, Tanzen, Singen – sowie medialen Kundgaben.
In den neutestamentlichen Schriften wird Besessenheit als durch böse, zum Reich Satans gehörige Geister – Dämonen – hervorgerufen gedeutet. Menschen können von ihr nur dadurch befreit werden, dass die Dämonen exorzistisch vertrieben werden, was Jesus mit die Zeugen solcher Szenen zum Staunen bringender charismatischer Kraft vollzog.
Im nichtchristlichen Raum gelten Naturgeister, Geister verstorbener Angehöriger sowie göttliche oder dämonische Mächte als Verursacher von Besessenheit. Belastende Geistwesen könne man oft nur im Guten dazu gewinnen, ihre Opfer zu verlassen. Solche Traditionen gibt es bei autochthonen asiatischen und afrikanischen Religionen sowie in davon beeinflussten buddhistischen, hinduistischen und islamischen Gruppen und in den afroamerikanischen Religionen Lateinamerikas. In diesen Kontexten können durchgestandene psychotische Zustände und körperliche Krankheiten manchmal als Initiationsweg verstanden werden, auf dem Heiler und religiöse Autoritäten heranreifen. In deren (Trance‑)Zuständen sollen sich Verstorbene oder göttliche Mächte manifestieren: durch divinatorische Urteile über soziale Konflikte und durch Diagnose und exorzistische Therapie von Krankheiten. Das spielt sich in ausdrucksstarken Ritualen in einer intensiv mitgehenden Gemeinde ab, aus der manchmal auch andere Personen in Besessenheit fallen. Die phänomenologisch ähnliche Trance der ebenfalls oft durch Krankheiten initiierten Schamanen gilt weniger als Besessenheit als als Seelenreise in die Sphäre der Geister.
Medizinische und sozialpsychologische Überlegungen
Aus humanwissenschaftlicher Sicht leiden „Besessene“ zumeist an psychosomatischen Störungen, die auf von sensiblen Heilern vollzogene und durch die Dynamik der Gruppe und ihre religiösen Traditionen mitgetragene Rituale gut ansprechen können. Auch Neurosen und dissoziative Zustände, zum Teil sogar Psychosen, lassen sich so positiv modifizieren.
Die im Zustand der „Besessenheit“ agierenden Heiler und religiösen Führer sind sicher psychisch traumatisierte Persönlichkeiten. Zu dieser Verfasstheit kommt es durch ihre „Initiationskrankheit“, zu der auch die dissoziative Verarbeitung seelischer Belastungen gehört.
Mit Hilfe erfahrener Lehrer werden die abgespaltenen Inhalte allmählich durch von der Tradition vorgegebene Bilder von Geistern geformt; die Betroffenen lernen, damit kreativ umzugehen, und man sollte sie nicht einfach nur pathologisieren.
Die Phänomenlage ist freilich durch solche Theorien nur teilweise abgedeckt; manchmal ist wohl auch Paranormales wie außersinnliche Wahrnehmung und medizinisch schwer erklärbare Heilungsvorgänge im Spiel.
Zur theologischen Deutung
In der Theologie wird man auch für extreme psychische Ausnahmezustände – auch wenn sie mit paranormalen Geschehnissen verbunden sind – nicht unbesehen auf die in das Weltbild der neutestamentlichen Zeit eingekleidete Deutung zurückgreifen. Man wird also nicht Besessenheit durch persönliche Dämonen annehmen, sondern die von Sozial- und Tiefenpsychologie, Psychiatrie und auch Parapsychologie angebotenen Deutungsmöglichkeiten einsetzen. Die Situation der Betroffenen hat allerdings auch eine religiöse Dimension. Sie hat insofern mit der Verstrickung des Menschen in die Macht des Bösen zu tun, als seine Freiheit zum Guten, zum Glauben und zur Liebe eingeschränkt ist. So ist hier nicht nur medizinische und humanwissenschaftliche sondern auch seelsorgliche Kompetenz gefragt, die mithilft, dass es zur Erfahrung der Präsenz Gottes kommt, der Heil und Freiheit im Letzten entspringen. In dieser Erfahrung lag ja auch der eigentliche Grund für die Kraft der Exorzismen Jesu, deren zeitbedingte dämonologische Deutung man freilich nicht übernehmen sollte. Ich möchte allerdings festhalten, dass die bedrängenden Übel in den objektiven Strukturen der Schöpfung, die vorgängig zum menschlichen Tun auch die Menschenwelt prägen, die Existenz hintergründiger willentlicher gottwidriger Mächte nahelegen. (Vgl. dazu meinen Artikel „Böse, das“ in diesem Lexikon)
Engführungen in christlichen Gruppen
Fundamentalistische und traditionalistische christliche Gruppen halten an der dämonologischen Deutung vieler psychischer Syndrome und manchmal sogar organischer Krankheiten fest. Sie seien Folge von Verfluchung, sündhaftem Leben oder Okkultpraktiken und nur durch Befreiungsdienst oder Exorzismus behebbar. Solche Rituale können manchmal aus Gründen, die den für den nichtchristlichen Bereich genannten analog sind, wirksam helfen. Das gilt besonders bei Menschen, zwischen deren Lebensgefühl und dem eines Psychiaters oder modernen Seelsorgers eine von beiden Seiten nicht überwindbare Fremdheit besteht. Auch wenn dann einzelne Menschen Erleichterung erfahren, geschieht das um den Preis, dass die sachlich kritikwürdigen und existentiell beengenden Grundoptionen der jeweiligen Gruppe gefestigt werden. Zudem gab es immer wieder Fälle, bei denen Exorzismen zu unentwirrbaren und tragischen Verstrickungen geführt haben.
Literatur
D. Baudy, Besessenheit, in: H. Waldenfels (Hg.), Lexikon der Religionen, Freiburg 21988, 51f; R. M. Becker, Trance und Geistbesessenheit in Candomblé von Bahia (Brasilien), Münster 1996;
W. C. van Dam, Satan existiert, Augsburg 1994;
W. Kasper / K. Lehmann (Hg.), Teufel, Dämonen, Besessenheit, Mainz 1978;
H. A. Kick (Hg.), Besessenheit, Trance, Exorzismus, Münster 2004;
G. Meyer u. a. (Hg.), An den Grenzen der Erkenntnis, Stuttgart 2015;
J. Mischo, Ein interdisziplinärer Zugang zum Thema „Dämonische Besessenheit“, in: Zeitschrift für Parapsychologie und Grenzgebiete der Psychologie 27 (1985), 157-179;
T. K. Oesterreich, Die Besessenheit, Langensalza 1921;
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R. van Quekelberghe / D. Eigner (Hg.), Themenband: Trance, Besessenheit, Heilrituale und Psychotherapie (Jahrbuch für Transkulturelle Medizin und Psychotherapie 1994), Berlin 1994;
A. Resch, Gabriele Amorth, in: Grenzgebiete der Wissenschaft 66 (2017),51-76;
A. Resch, Die Exorzisten, in: Grenzgebiete der Wissenschaft 64 (2015), 67-79;
M. Scale, Der Exorzismus in der Katholischen Kirche, Regensburg 2012;
R. Ungar, Die Berufung zum Heiler, Wien 2003;
M. Wegner, Exorzismus heute, Gütersloh 2009;
A. Weissenböck, Geisterglaube und Besessenheit, Wien 1999.
Bernhard Wenisch, 2020