Dreifaltigkeitssonntag (Lesejahr C) | 15. Juni 2025
Gedanken von Jakob Kremer (1924-2010)
Spr 8,22-31
So spricht die Weisheit Gottes:
Der Herr hat mich geschaffen als Anfang seines Weges, vor seinen Werken in der Urzeit;
in frühester Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, beim Ursprung der Erde.
Als die Urmeere noch nicht waren, wurde ich geboren, als es die Quellen noch nicht gab,
die wasserreichen. Ehe die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln wurde ich geboren.
Noch hatte er die Erde nicht gemacht und die Fluren und alle Schollen des Festlands.
Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er den Erdkreis abmaß über den Wassern, als er droben die Wolken befestigte und Quellen strömen ließ aus dem Urmeer, als er dem Meer sein Gesetz gab und die Wasser nicht seinen Befehl übertreten durften, als er die Fundamente der Erde abmaß, da war ich als geliebtes Kind bei ihm.
Ich war seine Freude Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit.
Ich spielte auf seinem Erdenrund und meine Freude war es, bei den Menschen zu sein.
Im Gespräch mit jüdischen Freunden sehe ich immer wieder: Hauptunterschied zwischen Juden und Christen ist der Glaube an Jesus als Sohn Gottes und damit an die Dreieinigkeit Gottes. Mit Recht erklären Juden, dass in ihrer Bibel jede Angabe darüber fehlt. Bilden aber nicht einige Texte ein „Präludium“ zu dem, was Christen bekennen aufgrund der ihnen geschenkten Einsicht in das Innerste Gottes, das jedes menschliche Verstehen übersteigt? Christliche Theologen zählen dazu die Stelle, wo die personifizierte Weisheit wie eine Prophetin (Frau Weisheit) über sich selbst spricht, um ihrer Lebensweisung Gewicht zu verleihen.
Dichterisch stellt sie sich als jene vor, die von Gott zu allererst gebildet wurde. Schon vor dem Urmeer, das nach alter Vorstellung unserer Welt vorausging (vgl. Gen 1,1), ist sie geboren schon vor der Erschaffung der Berge und Himmel. Poetisch schildert sie, dass sie als Gottes geliebtes Kind dabei war, als er wie ein Baumeister Himmel und Erde formte, aus dem Chaos den Kosmos schuf. Was sie als Weisheit lehrt, entspricht darum den von Anfang an erschauten Grundgesetzen der Welt.
Ihr Alter und ihre Würde betont sie schließlich, indem sie sich als ein Gott erfreuendes, vor ihm spielendes Kind zeichnet. Gottes Ergötzen an ihr spiegelt seine Freude an der in Weisheit geordneten Welt und lädt ein, die Weisheit zu schätzen, zumal es ihre Freude ist, bei den Menschen zu weilen und von ihnen angenommen zu werden.
Die dichterisch gezeichnete Personifikation und Präexistenz der Weisheit ermöglichte es den ersten Christen, ihr Wissen von Jesus als Gottes ewigem Sohn, dem alle ihre wahre, sinnvolle Existenz verdanken (vgl. 1 Kor 8,6; Kol 1,16f), in Worten ihrer Bibel auszudrücken: Er ist nach christlicher Überzeugung „Gottes Weisheit“ selbst (1 Kor 1,24.30) und der „Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15-17), doch nicht als erstes Geschöpf, sondern als der vor aller Zeit aus Gott hervorgehende „Sohn“. Als solcher hat er - wie der Heilige Geist - mit dem Vater die Gottheit in unverminderter Weise gemeinsam.
Was in den ältesten Aussagen über Gottes Liebe zur Welt anklingt, findet im Geheimnis der Dreieinigkeit gleichsam den nie endenden Schlussakkord: Der Vater erbarmt sich selbst der Menschen und teilt ihr Los in seinem Sohn; durch seinen Geist gibt er ihnen in der von ihm geliebten Welt Anteil an seinem eigenen Leben, schon anfanghaft hier auf Erden und vollendet in der Ewigkeit.